Die Kunst, den Anzug im Schrank zu lassen

Die Kunst, den Anzug im Schrank zu lassen

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Die Schneiderei steht in einem Widerspruch: Sie erhebt oftmals den Anspruch, zeitlos und allgemeingültig zu sein. Dennoch wird sie immer wieder als überkommen abgetan. Woher kommt das?

Die vielen Bücher zum Thema Schneiderei sind sich in einem Punkt einig: Beim Anzug handelt es sich um eine Kleiderordnung, die immer und zu jeder Gelegenheit passt. Er ist nie fehl am Platz und, wenn man einen guten Schneider hat, auch nicht unvorteilhaft.

So weit, so wahr. Es ist kein Marketing-Gag: Ein diskreter und gut sitzender Anzug ist der Grundstein für Eleganz und Anmut und passt zu nahezu jedem gesellschaftlichen Anlass. Mir kommt jedoch immer wieder der Gedanke, dass diese Bücher etwas verschweigen – ein stille Abwesenheit bestimmt ihr Programm. Meiner Meinung nach ignorieren sie die Lebensrealität vieler ihrer Leser. Denn so sehr ich auch die Handwerkskunst, die Silhouette und die Proportionen eines Anzugs zu schätzen weiß, ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich morgens bewusst am Anzug vorbeigreife.

Warum sollte man überhaupt einen Anzug tragen? Es geht dabei natürlich nicht nur um eine Kleiderordnung. Das Thema hat sich für die allermeisten sowieso erledigt und ließe sich außerdem auch mit einem Besuch bei einer x-beliebigen Kaufhauskette bewerkstelligen. Nein, für mich ist es vielmehr das Vergnügen, einen Anzug um seiner selbst willen zu tragen. Ich verspüre eine tiefe Wertschätzung für seine transformative Kraft. Ich genieße die sorgfältige Überlegung zu Kombinationsmöglichkeiten im Vorhinein. Ich bewundere die Präzision, die mit dem Tragen von maßgeschneiderter Kleidung einhergeht und die signalisiert, dass man sich um sich selbst und sein öffentliches Auftreten sorgt. Ich schätze die Materialien, das Handwerk und die jahrzehntelange Geschichte, die Anzüge in sich tragen. Ich werde immer eine Schwäche für diejenigen haben, die sich selbst für scheinbar belanglose Anlässe in einen Anzug schwingen – das gilt natürlich auch für romantische Anlässe. Doch bei aller Liebe und trotz meiner ungebremsten Faszination: Es muss nicht immer die komplette Rüstung sein.

So sehr ich die Schneiderkunst schätze, so sehr schätze ich auch die Schlichtheit einer eingetragenen Jeans oder die fast schon aufmüpfige Simplizität eines ausgeleierten Sweatshirts. Das soll nicht heißen, dass ich mir keine Gedanken mache, wenn ich keinen Anzug trage. Im Gegenteil: Meine Begeisterung für Kleidung endet nicht an den Grenzen des Handgemachten. Meine Garderobe profitiert sehr davon, dass ich auch lässigere und sportlichere Stücke integriert habe. Viele davon sind für mich eine natürliche Ergänzung zu maßgeschneiderter Kleidung.

Manche Looks, die dabei entstehen, sind schon fast klischeehaft, aber: Eine Flanelljacke zum alten Sweatshirt schreit förmlich nach einem Herbstsonntag mit einem guten Buch in der Hand. Eine Barbour-Jacke, die man über das Outfit wirft, verströmt eine robuste Zweckmäßigkeit, die eine maßgeschneiderte Hose wunderbar ergänzen kann. Und wenn ich eine Jeans trage, weiß ich die Passform, das Handwerk und die vielseitigen Einsatzzwecke sehr zu schätzen.

Die Auflösung klassischer Kleiderordnungen bringt meines Erachtens große Freiheiten, die genutzt werden sollten. Der gleiche Eifer, mit dem der Anzug einst als Uniform verbannt wurde, hat auch sein Wiederaufleben ermöglicht. Heute ist es ein großes Vergnügen, Anzug zu tragen: Er stellt keine Anforderungen, Hindernisse oder Einschränkungen dar. Im Gegenteil: Eine Anzughose zum Pulli? Kein Problem. Eine Jeans zum Blazer? Ja, auch das ist erlaubt. Es muss nicht immer die Krawatte oder das perfekt gebügelte Hemd sein. Meine eigene Garderobe baut stark auf Maßanzügen auf, aber zugleich genieße ich die Möglichkeit, andere Kleidungsstücke zu kombinieren sehr. Auf diese Weise entstehen neue Optionen, die den ästhetischen Horizont erweitern. Kurzum: Es macht großen Spaß, hochformell und tiefenentspannt zu kombinieren. Probieren Sie es aus. YS/NWW

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